Freitag

Es gibt keine Wahrheit


"Es gibt nur eine falsche Sicht: Die Überzeugung, meine Sicht ist die einzig richtige“ –
sagte Buddha zum kleinen Mönch. 

Das ist der Grund, warum es Kriege auf dieser Welt gibt,
warum Beziehungen scheitern,
warum wir uns oft nicht verstanden fühlen. 
Jeder sieht die Welt durch seine eigene Brille. 

Warum es völlig in Ordnung ist, dass mein Blau dein Grün ist und warum es keine allgemein gültige Wahrheit gibt.




Es gibt nur MEINE Wahrheit und DEINE
Mein Mann sagt: „Ich ziehe heute die schwarze Hose an“ – und kommt mit der dunkelblauen aus dem begehbaren Kleiderschrank. Bei der Frage, ob mein Kleid blau oder grün ist, habe ich mich mit meiner Mutter auf türkis geeinigt. Was ja bei Diskussionen über Farbtöne noch lustig erscheint, ist übertragen aufs Leben, eine der großen Fragen, wahrscheinlich die größte Frage des Lebens überhaupt: „Wer hat recht? Was ist die Wahrheit? Wer ist im Inbegriff der einzig geltenden Wahrheit? Oder ist alles – wie beim türkis – nur ein großer Kompromiss?“

Für Aristoteles ergab sich Wahrheit daraus, dass möglichst viele Leute mit einer Meinung oder Annahme übereinstimmen. Nur weil genügend Leute daran glauben, ist etwas wahr? Das würde ja heißen, dass Elvis noch lebt. Für Thomas von Aquin, Kant und Hegel musste der Beweis für eine Theorie erbracht und von der Allgemeinheit akzeptiert werden. Auch das ist eine Kompromiss-Theorie.
Gibt es überhaupt die einzig wahre, allein gültige Wahrheit?

Nein, gibt es nicht. Es gibt nur MEINE Wahrheit und DEINE. So wie du die Welt siehst, siehst sie nur du. Und du weißt selbst: Selbst deine Sicht der Dinge kann auf ein und dieselbe Sache völlig verschieden sein, je nachdem wie es dir geht oder wie alt du bist usw. Bist du verliebt, kann es noch so ein regnerischer Tag sein, für dich scheint die Sonne und du bist glücklich. Wenn es dir schlecht geht, macht dich so ein trüber Tag noch depressiver.

Diese verschiedenen „Brillen“, die unsere Sicht auf die Dinge einfärben, werden im Yoga Sutra von Patanjali Kleshas genannt.




Die Kleshas

Avidya = Nicht-Wissen
Man könnte sagen, das Haupt-Klesha ist Avidya, das Nicht-Wissen, die Täuschung im Glaube zu sein, die Wahrheit zu besitzen. Diese falsche Wahrnehmung legt sich wie ein Schleier über alles andere und wird so zur subjektiven Wahrheit jedes einzelnen. Avidya ist das Ergebnis von Erfahrungen und Prägungen: In einer bestimmten Situation wurde einmal auf eine bestimmte Art empfunden, gedacht, verstanden, gehandelt – fortan wird automatisch, mechanisch, beinahe blind wiederholt. Wir sind mit dem Autopiloten unterwegs.

Asmita = Identifikation mit dem Ich
Das zweite Klesha ist Asmita, die Identifizierung, auch als Ego bekannt. Wenn ein Kind von der Schule heimkommt und erzählt, dass es von einem Mitschüler geschlagen wurde, einfach so, ohne Grund – ist das in der Regel für die Mutter die Wahrheit. Für die Mutter des „Schlägers“ ist es die Wahrheit, dass ihr Kind sich nur gewehrt hat, weil das andere angefangen hat. Die Mütter identifizieren sich so sehr mit ihren Kindern, dass sie kaum noch objektiv sein können, sondern blind zu ihrem Nachwuchs halten.



Raga = Begierde
Das dritte Klesha ist das Verlangen, das meine Sinne eintrübt: Raga. Ich habe Heißhunger auf Schokolade, deswegen rede ich mir schön: Ich habe heute eh noch nicht viel gegessen, also darf ich ruhig sündigen.


Dvesha = Abneigung
Das Gegenteil von Raga, der Begierde, ist Dvesha, die Abneigung – damit haben oft Lehrer zu kämpfen. Vielleicht hatte ein Lehrer mal einen Schüler namens Samuel in der Klasse, ein Problemkind, das laut herumschrie, andere Kinder schikanierte und den Unterricht störte. Das Kind hat die Schule längst verlassen, auf einer neuen Klassenliste steht ein Samuel – und der Lehrer hat sofort ein negatives Gefühl dazu, denn in ihm hat sich manifestiert: Samuels machen nur Ärger.


Avihinivesha = Todesangst
Dann gibt es noch Abhinivesha, alle Formen der Furcht, die gemeinsam haben, dass sie sich auf Todesangst zurückführen lassen. Menschen mit Flugangst sind davon überzeugt, dass das Flugzeug, in dem sie sitzen gleich abstürzen wird. Hypochonder glauben jeden Tag, an einer neuen Krankheit zu sterben – das ist für sie die Wahrheit. Ein Pickel wird zum Hautkrebs. Mit Argumenten kommt man da nicht dagegen an.


Nimm ganz bewusst mal die Brille ab
Genau das Hypochonder-Beispiel kann uns zeigen, wie festgelegt die Menschen in ihrer Wahrnehmung und in ihrem Handeln sind. Wie irrational und pur emotional sie werden, wenn sie ihre „Brillen“ aufhaben. Jemand, der sich ohnehin hässlich, zu dick und nicht attraktiv findet, glaubt, dass ihn die Leute auf der Straße anglotzen und sich über ihn lustig machen. Alles Interpretation.

Diese Brillen und Autopiloten haben wir alle. Es ist ein unerreichbares Ideal anzustreben, sie abzulegen und Purusha, den nüchternen Betrachter, freizulegen – ja, nahezu übermenschlich. Aber vielleicht denkst du das nächste Mal daran, wenn du mit deinem Freund streitest oder dich von einem anderen Autofahrer provoziert fühlst.
Versuch ganz objektiv zu bleiben und stell dir folgende Fragen: Was hat der andere tatsächlich und ganz sachlich getan oder gesagt – und wie ist es bei mir angekommen? Habe ich seine Wahrheit verstanden oder wurde es durch meine Brillen und Interpretationen zu meiner Wahrheit?

Der Gute-Laune-Booster
Das ganze hat aber auch einen entscheidenden Vorteil: Es gibt kein "Das ist halt so". Du kannst deine Wahrnehmung der Welt selbst beeinflussen. Und weißt du, was das beste daran ist: Man kann es auch aktiv einsetzen als Gute-Laune-Booster. Wenn es dir schlecht geht, warum auch immer, identifiziere die dunkle, verschmierte Brille, nimm sie ganz bewusst ab. Verwöhne dich, tue dir was Gutes und sag dir immer wieder: Es ist nur diese finstere Brille. Dann setze dir eine andere, bunte Brille auf und die Welt sieht ganz anders aus.

Mach dir die Welt, wie sie dir gefällt!

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