Yoga Storys










Was ich nicht weiß, ...
Ein Franzose wanderte Ende der 1920er Jahren nach Amerika aus und gründete dort eine Weingroßhandlung für französische Weine. Sein Unternehmen wuchs rasch und wurde schließlich sehr bekannt. Zum 25-jährigen Geschäftsjubiläum gab er ein großes Fest mit vielen Ehrengästen und Medienvertretern. Ein Journalist stellte dem Weingroßhändler die Frage: "Sie haben sich zur Zeit der Weltwirtschaftskrise selbständig gemacht, Ihren Betrieb aufgebaut und vergrößert. Was haben Sie für ein Erfolgsgeheimnis?" "Sie werden mich auslachen, wenn ich es Ihnen erzähle", antwortete der Franzose. "In den ersten Jahren hier in Amerika waren meine Englischkenntnisse so dürftig, dass ich keine Zeitung lesen konnte. Deswegen wusste ich gar nichts von der Krise."


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Die Wünsche des Bauern
Ein armer chinesischer Reisbauer kam einst trotz all seines Fleißes in seinem Leben nicht vorwärts. Eines Abends begegnete ihm der Mondhase, von dem man weiß, dass er jeden Wunsch erfüllen kann. "Ich will dir helfen", sagte der Mondhase, "Ich werde dich auf den Wunschberg bringen, wo du dir aussuchen kannst, was immer du willst." Ehe er sich versah, fand sich der Reisbauer vor einem prächtigen Tor wieder, über dem stand: "Jeder Wunsch wird Wirklichkeit". Schön, dachte der Bauer und rieb sich die Hände. Mangel und Armseligkeit haben nun endlich ein Ende.  Erwartungsvoll trat er durch das Tor. Ein weißhaariger, alter Mann stand am Tor und begrüßte ihn mit den Worten: "Was immer du dir wünschst, wird sich erfüllen. Aber zuerst musst du wissen, was man sich überhaupt alles wünschen kann. Daher folge mir!" Der alte Mann führte den Bauern durch mehrere Säle, einer schöner als der andere. "Hier", sprach der Alte ,"im ersten Saal siehst du das Schwert des Ruhmes. Wer sich das wünscht, wird ein gewaltiger General. Er eilt von Sieg zu Sieg und sein Name wird auch noch in den fernsten Zeiten genannt. Willst du das?" Nicht schlecht, dachte sich der Bauer, Ruhm ist eine schöne Sache und ich möchte zu gerne die Gesichter der Leute im Dorf sehen, wenn ich General werden würde. Aber ich will es mir noch einmal überlegen. Also sagte er: "Gehen wir erst einmal weiter." Im zweiten Saal zeigte der alte Mann dem Bauern das Buch der Weisheit. "Wer sich dieses wünscht, dem werden alle Geheimnisse des Himmels und der Erde offenbart." Der Bauer meinte: "Ich habe mir schon immer gewünscht, viel zu wissen. Das wäre vielleicht das Richtige. Aber ich will es mir noch einmal überlegen." Im dritten Saal befand sich ein Kästchen aus purem Gold. "Das ist die Truhe des Reichtum. Wer sich die wünscht, dem fliegt das Gold zu, ob er nun arbeitet oder nicht." "Ha!" lachte der Bauer, "Das wird das Richtige sein. Wer reich ist, der ist der glücklichste Mensch der Welt. Aber Moment! Glück und Reichtum sind ja zwei verschiedene Dinge. Ich weiß nicht recht. Gehen wir noch weiter." Und so ging der Bauer von Saal zu Saal, ohne sich für etwas zu entscheiden. Als sie den letzten Saal gesehen hatten, sagte der alte Mann zum Bauern: "Nun wähle. Was immer du dir wünschst, wird erfüllt werden!" "Du musst mir noch ein wenig Zeit lassen!" sagte der Bauer "Ich muss mir die Sache noch überlegen. In diesem Augenblick aber ging das Tor hinter ihm zu und der Alte war verschwunden. Der Bauer fand sich zu Hause wieder. Der Mondhase saß wieder vor ihm und sprach: "Armer Bauer, so wie du sind die meisten Menschen. Sie wissen nicht, was sie sich wünschen sollen. Sie wünschen sich alles und bekommen nichts. Was immer sich einer wünscht, das schenken ihm die Götter – aber der Mensch muss wissen, was er will.


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Hoffnung und Zweifel
Die Hoffnung ging spazieren. Und als sie leichten Schrittes den Weg entlang lief, traf sie auf den Zweifel. Auch er war spazieren gegangen, um etwas abzuschalten. "Vielleicht geht er einfach vorbei." dachte die Hoffnung. "Das wird nicht gut gehen." dachte der Zweifel. Da der Weg nur schmal war und keiner der beiden ausweichen wollte, standen sie sich bald wie zwei Cowboys im Duell gegenüber. Als sie auf diese Weise einander anstarrten, wurde ihnen beiden plötzlich die Tatsache bewusst, dass sie sich bis aufs Haar glichen! Wie ein Zwilling dem anderen. Keiner hätte von außen sagen können, wer was war. Sie wichen erschrocken voreinander zurück und sie liefen auseinander. "Vielleicht hat er mich gar nicht gesehen." dachte die Hoffnung. "Das hatte nicht gut gehen können." dachte der Zweifel
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Keine Zeit!
Ein Mann ging im Wald spazieren. Nach einer Weile sah er einen Holzfäller, der hastig und sehr angestrengt dabei war, einen auf dem Boden liegenden Baumstamm zu zerteilen. Er stöhnte und schwitzte und schien viel Mühe mit seiner Arbeit zu haben. Der Spaziergänger trat etwas näher heran, um zu sehen, warum die Arbeit für den anderen so beschwerlich war. Schnell erkannte er den Grund und sagte zum Holzfäller: „Guten Tag. Ich sehe, dass Sie sich Ihre Arbeit ganz unnötig schwer machen. Ihre Säge ist ja richtig stumpf – warum schärfen Sie sie denn nicht?" Der Holzfäller schaute nicht einmal hoch, sondern zischte nur durch die Zähne: „Keine Zeit! Ich muss sägen!"


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Spaziergang am Meer
Ein Mann lag schon seit einigen Wochen krank im Bett, und seine Ungeduld zu genesen und wieder ganz gesund zu sein, wuchs von Tag zu Tag. Da hatte er eines Nachts folgenden Traum: Er ging mit Gott an einem Strand spazieren. Am Himmel zogen Szenen aus seinem Leben vorbei, und für jede Szene waren Spuren im Sand zu sehen. Als er nun auf die Fußspuren im Sand zurückblickte, sah er, dass manchmal zwei, manchmal aber nur eine da war. Er bemerkte weiter, dass diese eine Spur zusammenfiel mit den Zeiten größter Not und Traurigkeit in seinem Leben. Deshalb fragte er Gott: „Ich habe bemerkt, dass zu den Krisenzeiten in meinem Leben nur eine Fußspur zu sehen ist. Du hast aber versprochen, stets mit mir zu sein. Ich verstehe nicht, warum du mich da, wo ich dich am nötigsten gebraucht hätte, allein gelassen hast.“ Da antwortete Gott: „Mein lieber Sohn, ich habe dich lieb und würde dich niemals verlassen. An den Tagen, an denen du am meisten gelitten hast und mich am nötigsten brauchtest – da, wo du nur eine einzige Fußspur siehst – das war an den Tagen, an denen ich dich getragen habe.“


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Steine und Sand
Ein Philosophieprofessor stand vor seinen Studenten und hatte ein paar Dinge vor sich liegen. Er begann seine Vorlesung damit, ein großes leeres Mayonnaiseglas bis zum Rand mit großen Steinen zu füllen. Anschließend fragte er seine Studenten, ob das Glas voll sei. Sie bejahten dies. Der Professor nahm eine Schachtel mit Kieselsteinen, schüttete sie in das Glas und schüttelte es leicht. Die Kieselsteine rollten natürlich in die Räume zwischen den größeren Steinen. Dann fragte er seine Studenten erneut, ob das Glas jetzt voll sei. Sie stimmten wieder zu und lachten. Der Professor lächelte ebenfalls, nahm eine Schachtel mit Sand und schüttete ihn in das Glas. Natürlich füllte der Sand nun die letzten Zwischenräume im Glas aus. "Nun", sagte er dann, an seine Studenten gewandt, "Ich möchte, dass Sie erkennen, dass dieses Glas wie ihr Leben ist! Die Steine sind die wichtigen Dinge im Leben: Ihre Familie, Ihr Partner, Ihre Freunde, Ihre Kinder, Ihre Berufung, Ihre Gesundheit - Dinge, die - wenn alles andere wegfiele und nur sie übrig blieben - ihr Leben immer noch erfüllen würden. Die Kieselsteine sind andere, weniger wichtige Dinge, wie z.B. Ihr Job, Ihre Wohnung, Ihr Haus oder Ihr Auto. Und der Sand symbolisiert die ganz kleinen Dinge im Leben. Wenn Sie den Sand zuerst in das Glas füllen, bleibt kein Raum für die Kieselsteine oder die großen Steine. So ist es auch in Ihrem Leben: Wenn Sie all ihre Energie für die kleinen Dinge in ihrem Leben aufwenden, haben Sie für die großen keine mehr. Achten Sie daher auf die wichtigen Dinge, nehmen Sie sich Zeit für die Dinge, die Ihnen am meisten am Herzen liegen. Es wird noch genug Zeit geben für Arbeit, Haushalt, Partys usw. Achten Sie zuerst auf die großen Steine - sie sind es, die wirklich zählen. Der Rest ist nur Sand."


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Über die Erleuchtung
Ein junger Zen-Schüler war für seinen besonderen Eifer bekannt. Er meditierte Tag und Nacht und wollte seine Übungen nicht einmal zum Essen oder Schlafen unterbrechen. So wurde er immer dünner und dünner und auch die Erschöpfung nahm zu. Der Meister rief ihn zu sich und riet ihm, langsamer vorzugehen und nicht zu viel von sich zu verlangen. Das aber wollte der Schüler nicht hören. „Warum hast du es so eilig?" wollte der Meister von ihm wissen. „Ich strebe nach Erleuchtung." entgegnete der Schüler. „Da habe ich keine Zeit zu verlieren." „Und woher weißt du, dass die Erleuchtung vor dir läuft, so dass du ihr hinterherlaufen musst?" fragte ihn da der Meister.
„Es könnte doch auch sein, dass sie hinter dir ist und dass du nichts weiter tun musst, als innezuhalten und ihrer gewahr zu werden ..."


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Vater, Sohn und Esel
In der glühenden Mittagshitze zogen ein Vater, sein Sohn und ein Esel durch die staubigen Gassen einer Stadt. Der Vater saß auf dem Esel, während der Junge daneben herging. Da sagte ein Vorübergehender: „Der arme Junge. Seine kurzen Beine können mit dem Tempo des Esels kaum mithalten. Wie kann ein Vater so faul auf dem Esel sitzen, während der Junge vom Laufen ganz müde wird.“ Der Vater beherzigte diese Worte und setzte seinen Sohn auf den Esel. Bald darauf kam ein anderer Mann vorbei und rief: „So eine Unverschämtheit. Der Bengel sitzt wie ein Sultan auf dem Esel, während sein armer, alter Vater nebenherläuft.“ Dies schmerzte der Jungen, der daraufhin den Vater bat, sich hinter ihn auf den Esel zu setzen. Bald darauf rief eine vorbeigehende Frau entrüstet aus: „Hat man so etwas schon gesehen? So eine Tierquälerei! Der Rücken des armen Esels hängt völlig durch, und der alte und der junge Nichtsnutz ruhen sich auf ihm aus, als wäre die arme Kreatur ein Diwan!“ Daraufhin stiegen Vater und Sohn wortlos vom Esel herunter, nahmen das Tier in ihre Mitte und gingen rechts und links daneben her. Kurze Zeit später machte sich ein Fremder über sie lustig: „So dumm möchte ich ja im Traume nicht sein. Wozu führt ihr denn den Esel spazieren, wenn er nichts leistet, euch keinen Nutzen bringt und nicht einmal einen von euch trägt?“ Vater und Sohn sahen einander wortlos an, dann packte der Vater den Esel bei den Vorderbeinen, der Sohn nahm ihn bei den Hinterbeinen, und so trugen sie beide ihren Esel für den Rest des Weges.


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Vier Kerzen
Am Adventskranz brannten vier Kerzen. Draußen lag Schnee und es war ganz still. So still, dass man hören konnte, wie die Kerzen miteinander zu reden begannen. Die erste Kerze seufzte und sagte: "Ich heiße FRIEDEN. Mein Licht gibt Sicherheit, doch auf der Welt gibt es so viele Kriege. Die Menschen wollen mich nicht." Ihr Licht wurde kleiner und kleiner und verglomm schließlich ganz. Die zweite Kerze flackerte und sagte: "Ich heiße GLAUBEN. Aber ich fühle mich überflüssig. Die Menschen glauben an gar nichts mehr. Was macht es für einen Sinn, ob ich brenne oder nicht?" Ein Luftzug wehte durch den Raum, und die zweite Kerze verlosch. Leise und sehr zaghaft meldete sich nun die dritte Kerze zu Wort: "Ich heiße LIEBE. Mir fehlt die Kraft weiter zu brennen; Egoismus beherrscht die Welt. Die Menschen sehen nur sich selbst, und sie sind nicht bereit, einander glücklich zu machen." Und mit einem letzten Aufflackern war auch dieses Licht ausgelöscht. Da kam ein Kind ins Zimmer. Erstaunt schaute es die Kerzen an und sagte: "Warum brennt ihr nicht? Ihr sollt doch brennen und nicht aus sein." Betrübt ließ es den Blick über die drei verloschenen Kerzen schweifen. Da meldete sich die vierte Kerze zu Wort. Sie sagte: "Sei nicht traurig, mein Kind. So lange ich brenne, können wir auch die anderen Kerzen immer wieder anzünden. Ich heiße HOFFNUNG." Mit einem kleinen Stück Holz nahm das Kind Licht von dieser Kerze und erweckte Frieden, Glauben und die Liebe wieder zu Leben.

  
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Wie man in den Wald hineinruft
Vor den Toren der Stadt saß einmal ein alter Mann. Jeder, der in die Stadt wollte, kam an ihm vorbei. Ein Fremder hielt an und fragte den Alten: "Sag, wie sind die Menschen hier in der Stadt?" "Wie waren sie denn dort, wo Ihr zuletzt gewesen seid?", fragte der Alte zurück. "Wunderbar. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt. Sie waren freundlich, großzügig und stets hilfsbereit." "So etwa werden sie auch hier sein." Dann kam ein anderer Fremder zu dem alten Mann. Auch er fragte: "Sag mir doch Alter, wie sind die Menschen hier in der Stadt?" "Wie waren sie denn dort, wo Ihr zuletzt gewesen seid?", lautete die Gegenfrage. "Schrecklich. Sie waren gemein, unfreundlich, keiner half dem anderen." "So, fürchte ich, werden sie auch hier sein."

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Die Raupe 
Ein Schüler kam zum Meister. 'Ach Herr,' stöhnte er, 'um Euren Lehren zu folgen, ist so viel Veränderung nötig. Das ist mir eigentlich alles viel zu anstrengend. Ich glaube, ich werde das Studium hier beenden.'Da schaute der Alte mit einem traurigen Blick auf seinen Schüler. 'Kennst du die Geschichte von der Raupe?' fragte er. Der Schüler verneinte.
'Es war einmal eine Raupe, die das Gefühl hatte, dass die Metamorphose zum Schmetterling zu anstrengend sei. Also beschloss sie, Raupe zu bleiben. Und während sie mühsam und langsam durchs Leben kroch, schaute sie immer mal wieder hinauf zu all den Schmetterlingen, die im Sommerwind von Blume zu Blume tanzten...' erzählte der Meister die Geschichte.
'Und nun überleg wohl, ob der scheinbar einfachere Weg auch tatsächlich der einfachere ist.'


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Die Geburt des Schmetterlings
Ein Wissenschaftler beobachtete einen Schmetterling und sah, wie sehr sich dieser abmühte, durch das enge Loch aus dem Kokon zu schlüpfen. Stundenlang kämpfte der Schmetterling, um sich daraus zu befreien. Da bekam der Wissenschaftler Mitleid mit dem Schmetterling, ging in die Küche, holte ein kleines Messer und weitete vorsichtig das Loch im Kokon damit sich der Schmetterling leichter befreien konnte. Der Schmetterling entschlüpfte sehr schnell und sehr leicht. Doch was der Mann dann sah, erschreckte ihn doch sehr. Der Schmetterling der da entschlüpfte, war ein Krüppel. Die Flügel waren ganz kurz und er konnte nur flattern aber nicht richtig fliegen. Da ging der Wissenschaftler zu einem Freund, einem Biologen, und fragte diesen: "Warum sind die Flügel so kurz und warum kann dieser Schmetterling nicht richtig fliegen?" Der Biologe fragte ihn, was er denn gemacht hätte. Da erzählte der Wissenschaftler dass er dem Schmetterling geholfen hatte, leichter aus dem Kokon zu schlüpfen. "Das war das Schlimmste was du tun konntest. Denn durch die enge Öffnung, ist der Schmetterling gezwungen, sich hindurchzuquetschen. Erst dadurch werden seine Flügel aus dem Körper herausgequetscht und wenn er dann ganz ausgeschlüpft ist, kann er fliegen. Weil du ihm geholfen hast und den Schmerz ersparen wolltest, hast du ihm zwar kurzfristig geholfen, aber langfristig zum Krüppel gemacht."

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Der kleine Bach
Es war einmal ein kleiner Bach, der kam an den Rand einer großen Wüste. Er fürchtete sich, weiterzugehen und auszutrocknen. Aber eine innere Stimme sagte ihm, er solle keine Angst haben und ruhig weitergehen. Nach einigem Zögern ging der Bach dann doch weiter, wenn es ihm auch nicht sehr wohl dabei war. Es wurde immer heißer und schließlich verdunstete der kleine Bach. Die aufgestiegenen Tröpfchen sammelten sich in der Luft. Sie bildeten bald Wolken, die über die Wüste zogen. Die Wolken reisten viele Tage, bis sie hinter der Wüste zum großen Meer kamen. Dort regneten sie sich leer. Das Bächlein wurde nun Teil des unendlichen Meeres und führt ein viel schöneres Leben, als es je erträumt hatte. Während das Bächlein sich sanft von einer Welle tragen ließ, überlegte es lächelnd: „Mehrmals habe ich meine Daseinsform verändert – und doch bin ich jetzt mehr ich selbst als je zuvor!“

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Zwei Samenkörner
Es steckten einmal zwei Samenkörner nebeneinander im Boden. Das erste Samenkorn sagte: “Ich will wachsen! Ich will meine Wurzeln tief in die Erde senden und ich will als kleines Pflänzchen die Erdkruste durchbrechen, um dann kräftig zu wachsen. Ich will meine Blätter entfalten und mit ihnen die Ankunft des Frühlings feiern. Ich will die Sonne spüren, mich von Wind hin- und herwehen lassen und den Morgentau auf mir spüren. Ich will wachsen!”
Und so entwickelte sich das Samenkorn zu einer kräftigen Pflanze. Das zweite Samenkorn sagte: “Ich fürchte mich. Wenn ich meine Wurzeln in den Boden senke, weiß ich nicht, was mich dort in der Tiefe erwartet. Ich befürchte, dass mir da etwas wehtut. Es könnte auch sein, dass ich Schaden nehme, wenn ich versuche, die Erdkruste zu durchbrechen. Und ich weiß nicht, was dort oben über der Erde auf mich lauert. Es kann so viel geschehen, wenn ich wachse. Nein, ich bleibe lieber erst einmal hier und warte, bis es sicherer ist.” Und so verblieb der Samen in der Erde und wartete. Eines Morgens kam eine Henne vorbei. Sie scharrte mit ihren scharfen Krallen nach etwas Essbaren im Boden. Nach einer Weile fand sie den wartenden Samen im Boden und fraß ihn auf.


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Der Adler, der nicht fliegen wollte
Es war einmal ein Mann, der in den Wald gind, um sich einen Vogel zu fangen. Er kam mit einem jungen Adler zurück, den er dann zu seinen Hühnern in den Hühnerhof sperrte. Er gab ihm Hühnerfutter zu fressen, obwohl er ein Adler war, der König der Vögel. Nach einigen Jahren kam ein Naturforscher zu Besuch. Er erblickte den Adler und rief aus: "Aber das ist doch kein Huhn dort, das ist ein Adler!" "Stimmt.", sagte der Mann, "Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügelspanne von drei Metern hat. "Oh nein", sprach da der Forscher. "Er ist noch immer ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauffliegen lassen in die Lüfte." Der Mann aber schüttelte den Kopf: "Nein, er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals fliegen." Die beiden Männer beschlossen, es auszuprobieren. Der Forscher ließ den Adler auf seinen Arm springen und sagte zu ihm: "Du, der du ein Adler bist, der du in den Himmel gehörst und nicht auf die Erde: breite deine Schwingen aus und fliege!"
Der Adler saß auf dem gestreckten Arm des Forschers und blickte um sich. Hinter sich sah er die Hühner nach ihren Körnern picken und sprang zu ihnen hinunter. Der Mann lachte und sagte: "Wie ich es sagte: er ist jetzt ein Huhn." "Nein", sagte der andere, "er ist ein Adler. Versuche es morgen noch einmal."
Am anderen Tag stieg er mit dem Adler auf das Dach des Hauses, hob ihn empor und sagte: "Adler, der du ein Adler bist, breite deine Schwingen aus und fliege!" Aber als der Adler wieder die scharrenden Hühner im Hofe erblickte, sprang er abermals zu ihnen hinunter und scharrte mit ihnen. Da sagte der Mann wieder: "Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn." Doch der Forscher schüttelte den Kopf und sagte: "Nein, er ist ein Adler und er hat noch immer das Herz eines Adlers. Lass‘ es uns noch ein einziges Mal versuchen; morgen werde ich ihn fliegen lassen."
Am nächsten Morgen stand der Forscher früh auf, nahm den Adler und brachte ihn hinaus aus der Stadt, weit weg von den Häusern an den Fuß eines hohen Berges. Die Sonne ging gerade auf und vergoldete den Gipfel des Berges. Jede Zinne erstrahlte in der Freude eines wundervollen Morgens. Er ließ den Adler wieder auf seinem Arm sitzen und hob den Arm hoch: "Du bist ein Adler. Du gehörst dem Himmel und auf die Erde. Breite deine Schwingen aus und fliege!"
Der Adler blickte umher und zitterte, als erfülle ihn neues Leben, aber er flog nicht. Da ließ ihn der naturkundige Mann direkt in die Sonne schauen. Und plötzlich breitete der Vogel seine gewaltigen Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers, flog höher und kehrte nie wieder zurück.

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Tempel mit tausend Spiegeln 

In einem fernen Land gab es vor langer, langer Zeit einen Tempel mit tausend Spiegeln und eines Tages kam, wie es der Zufall so will, ein Hund des Weges. Der Hund bemerkte, dass das Tor zum Tempel der tausend Spiegel geöffnet war und vorsichtig und ängstlich öffnete er das Tor und ging in den Tempel hinein. Und Hunde wissen natürlich nicht, was Spiegel sind und was sie vermögen und nachdem er den Tempel betreten hatte, glaubte er sich von tausend Hunden umgeben. Und der Hund begann zu knurren und er sah auf die vielen Spiegeln und überall sah er einen Hund, der ebenfalls knurrte. Und er begann die Zähne zu fletschen und im selben Augenblick begannen die tausend Hunde die Zähne zu fletschen und der Hund bekam es mit der Angst zu tun. So etwas hatte er noch nie erlebt und voller Panik lief er, so schnell er konnte, aus dem Tempel hinaus. Dieses furchtbare Erlebnis hatte sich tief in das Gedächtnis des Hundes vergraben. Fortan hielt er es für erwiesen, daß ihm andere Hunde feindlich gesinnt sein mussten. Die Welt war für ihn ein bedrohlicher Ort und er ward von anderen Hunden gemieden und lebte verbittert bis ans Ende seiner Tage. 
Die Zeit verging und wie es der Zufall so will, kam eines Tages ein anderer Hund des Weges. Der Hund bemerkte, dass das Tor zum Tempel der tausend Spiegel geöffnet war und neugierig und erwartungsvoll öffnete er das Tor und ging in den Tempel hinein. Und Hunde wissen natürlich nicht, was Spiegel sind und was sie vermögen und nachdem er den Tempel betreten hatte, glaubte er sich von tausend Hunden umgeben. Und der Hund begann zu lächeln und er sah auf die vielen Spiegeln und überall sah er einen Hund, der ebenfalls lächelte - so gut Hunde eben lächeln können. Und er begann vor Freude mit dem Schwanz zu wedeln und im selben Augenblick begannen die tausend Hunde mit ihrem Schwanz zu wedeln und der Hund wurde noch fröhlicher. So etwas hatte er noch nie erlebt und voller Freude blieb er, so lange er konnte, im Tempel und spielte mit den tausend Hunden. Dieses schöne Erlebnis hatte sich tief in das Gedächtnis des Hundes vergraben. Fortan sah er es als erwiesen an, dass ihm andere Hunde freundlich gesinnt waren. Die Welt war für ihn ein freundlicher Ort und er ward von anderen Hunden gern gesehen und lebte glücklich bis ans Ende seiner Tage.

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Wer bist Du?

Es war einmal eine Frau, die schwer erkrankt war und im Koma lag. Die Zeit verstrich, ohne dass sie wieder zu sich kam. Auf einmal erschien es ihr so, als sei sie nun tot, als befände sie sich im Himmel und stände nun vor einem Richterstuhl. „Wer bist du?" fragte eine Stimme. „Ich bin die Frau des Bürgermeisters" antwortete die Frau. „Ich habe nicht gefragt, wessen Ehefrau du bist, sondern, wer du bist." „Ich bin Mutter von vier Kindern." entgegnete die Frau. „Ich habe dich nicht gefragt, wessen Mutter du bist, sondern wer du bist." „Ich bin Lehrerin." gab die Frau zur Antwort und ihre Stimme schwankte etwas. „Ich habe auch nicht nach deinem Beruf gefragt, sondern wer du bist." „Ich bin Christin." sagte die Frau, nun schon ziemlich ratlos. „Ich habe dich nicht nach deiner Religion gefragt, sondern wer du bist."

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Zwei Wölfe
Ein alter Indianer saß mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer. Die Nacht hatte sich über das Land gesenkt und das Feuer knackte und krachte, während die Flammen hoch hinaus in den Himmel züngelten. Nach einer langen Weile des Schweigens sagte der Alte zu seinem Enkel : "Weißt du, manchmal fühle ich mich, als wenn zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend." "Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?" fragte der Junge. "Der Wolf, den ich füttere." antwortete der Alte.


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Der kaputte Krug
Es war einmal ein Wasserträger in Indien. Auf seinen Schultern ruhte ein schwerer Holzstab, an dem rechts und links je ein großer Wasserkrug befestigt war. Nun hatte einer der Krüge einen Sprung. Der andere hingegen war perfekt geformt und mit ihm konnte der Wasserträger am Ende seines langen Weges vom Fluss zum Haus seines Herren eine volle Portion Wasser abliefern. In dem kaputten Krug war hingegen immer nur etwa die Hälfte des Wassers, wenn er am Haus ankam. Für volle zwei Jahre lieferte der Wasserträger seinem Herren also einen vollen und einen halbvollen Krug. Der perfekte der beiden Krüge war natürlich sehr stolz darauf, dass der Wasserträger in ihm immer eine volle Portion transportieren konnte. Der Krug mit dem Sprung hingegen schämte sich, dass er durch seinen Makel nur halb so gut war wie der andere Krug.

Nach zwei Jahren Scham hielt der kaputte Krug es nicht mehr aus und sprach zu seinem Träger: “Ich schäme mich so für mich selbst und ich möchte mich bei dir entschuldigen.” Der Wasserträger schaute den Krug an und fragte: “Aber wofür denn? Wofür schämst du dich?” “Ich war die ganze Zeit nicht in der Lage, das Wasser zu halten, so dass du durch mich immer nur die Hälfte zu dem Haus deines Herren bringen konntest. Du hast die volle Anstrengung, bekommst aber nicht den vollen Lohn, weil du immer nur anderthalb statt zwei Krüge Wasser ablieferst.” sprach der Krug.
Dem Wasserträger tat der alte Krug leid und er wollte ihn trösten. So sprach er: “Achte gleich einmal, wenn wir zum Haus meines Herren gehen, auf die wundervollen Wildblumen am Straßenrand.” Der Krug konnte daraufhin ein wenig lächeln und so machten sie sich auf den Weg. Am Ende des Weges jedoch fühlte sich der Krug wieder ganz elend und entschuldigte sich erneut zerknirscht bei dem Wasserträger. Der aber erwiderte: “Hast du die Wildblumen am Straßenrand gesehen? Ist dir aufgefallen, dass sie nur auf deiner Seite des Weges wachsen, nicht aber auf der, wo ich den anderen Krug trage? Ich wusste von Beginn an über deinen Sprung. Und so habe ich einige Wildblumensamen gesammelt und sie auf Deiner Seite des Weges verstreut. Jedes Mal, wenn wir zum Haus meines Herren liefen, hast du sie gewässert. Ich habe jeden Tag einige dieser wundervollen Blumen pflücken können und damit den Tisch meines Herren dekoriert. Und all diese Schönheit hast du geschaffen.” 

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Das Geheimnis der Zufriedenheit 
Es kamen einmal ein paar Suchende zu einem alten Zenmeister. „Meister", fragte einer von ihnen „was tust du, um glücklich und zufrieden zu sein? Ich wäre auch gerne so glücklich wie du." Der Alte antwortete mit mildem Lächeln: „Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich und wenn ich esse, dann esse ich." Die Fragenden schauten etwas betreten in die Runde. Einer platzte heraus: „Bitte, treibe keinen Spott mit uns. Was du sagst, tun wir auch. Wir schlafen, essen und gehen. Aber wir sind nicht glücklich. Was ist also dein Geheimnis?" Es kam die gleiche Antwort: „Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich und wenn ich esse, dann esse ich." Die Unruhe und den Unmut der Suchenden betrachtend, fügte der Meister nach einer Weile hinzu: „Sicher liegt auch Ihr und Ihr geht auch und Ihr esst. Aber während Ihr liegt, denkt Ihr schon ans Aufstehen. Während Ihr aufsteht, überlegt Ihr, wohin Ihr geht und während Ihr geht, fragt Ihr Euch, was Ihr essen werdet. So sind Eure Gedanken ständig woanders und nicht da, wo Ihr gerade seid. In dem Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft findet das eigentliche Leben statt. Lasst Euch auf diesen nicht messbaren Augenblick ganz ein und Ihr habt die Chance, wirklich glücklich und zufrieden zu sein."


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Das Geschenk
Auf einer der größeren Inseln vor der Küste lebte ein chüler, der seiner Lehrerin eine ganz besonders geformte Muschel schenkte.
Sie dankte ihm erfreut und bemerkte: „Ich habe noch nie eine so wunderbare Muschel gesehen, sie ist ganz außergewöhnlich schön! Wo hast du sie denn gefunden?"
Der Schüler erzählte ihr von einer versteckten Stelle am anderen Ende der Insel und dass dort hin und wieder solch eine Muschel angeschwemmt werden würde.
„Ich danke dir nochmals von Herzen. Aber du hättest doch keinen so weiten Weg machen sollen, nur um mir etwas zu schenken." Darauf antwortete der Schüler: „Aber der weite Weg ist doch ein Teil des Geschenks ..."


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Das Gewicht des Lebens 

Ein junger Mann kam zu einem alten Weisen. "Meister", sprach er mit schleppender Stimme "das Leben liegt mir wie eine Last auf den Schultern. Es drückt mich zu Boden und ich habe das Gefühl, unter diesem Gewicht zusammenzubrechen." "Mein Sohn" sagte der Alte mit einem liebevollen Lächeln, "das Leben ist leicht wie einer Feder." "Meister, bei allem Respekt, aber hier musst Du irren. Denn ich spüre mein Leben Tag für Tag wie eine tonnenschwere Last auf mir lasten. Sag, was kann ich tun?"

"Wir sind es selbst, die uns Last auf unsere Schultern laden." sagte der Alte, noch immer lächelnd. 


"Aber..." wollte der junge Mann einwenden. Doch der alte Mann hob die Hand: "Dieses "Aber", mein Sohn, wiegt allein schon eine Tonne..."

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Das Huhn und der Zaun
Es war einmal ein Huhn, Klara genannt, das lief aufgeregt gackernd am Zaun entlang, denn es wollte zu dem Futter, das auf der anderen Seite lag. Klara war schon dem Verhungern nahe, und so versuchte sie alles Mögliche: Sie probierte über den Zaun zu fliegen, doch er war zu hoch. Sie suchte eine Lücke, doch es gab keine. Sie stieß mit aller Kraft gegen den Zaun, doch er gab nicht nach. So rannte sie in immer größerer Panik hin und her, bis sie tot umfiel.

Das einzige, was sie nicht getan hatte, war, sich ein paar Meter vom Futter und dem Zaun zu entfernen. Denn dann hätte sie entdecken können, dass der Zaun nach 10 Metern Breite aufhörte.

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Die Mutprobe
Es war einmal ein großer König, der einen Zauberer darum bat, ihm einen wirklich mutigen Menschen für eine gefährliche Mission zu finden. Nach langer Suche brachte der Zauberer vier Männer vor seinen Meister. Der König wollte den Mutigsten herausfinden und der Zauberer sollte einen Test dafür erschaffen. So gingen der König, der Zauberer und die vier Männer an den Rand eines weiten Feldes, an dessen anderem Ende eine Scheune stand. Der Zauberer klärte über das Vorgehen auf: „Jeder Mann kommt einmal dran. Er wird zur Scheune gehen und bringen, was dort drinnen ist.“ Der erste Mann ging über das Feld. Plötzlich brauste ein furchtbarer Sturm auf – Blitze zuckten, Donner rollte und der Boden bebte. Der Mann zögerte. Er fürchtete sich. Als der Sturm immer stärker wurde, fiel er ängstlich zu Boden. Dann ging der zweite Mann über das Feld. Der Sturm wurde so stark, dass er zum Orkan wurde. Der zweite kam weiter als der erste, doch schließlich fiel auch er zu Boden. Der dritte rannte los und überholte die anderen zwei. Aber die Himmel öffneten sich, der Boden zerteilte sich und die Scheune wackelte und krachte bedenklich. Der dritte Mann fiel zu Boden.Der vierte begann ganz langsam zu gehen. Er fühlte seine Füße auf dem Boden. Sein Gesicht war weiß vor Angst. Er fürchtete sich am meisten davor, als Feigling da zu stehen. Langsam ging er an dem ersten Mann vorbei und sagte zu sich selbst: „Soweit ist alles gut mit mir. Nichts ist mir passiert. Ich kann ein Stückchen weiter gehen.“ So ging er Schritt für Schritt, zentimeterweise zur Scheune. Er gelangte schließlich dorthin und kurz bevor er den Türgriff berührte sagte er: „Soweit ist alles gut mit mir. Ich kann noch ein wenig weiter gehen.“ Dann legte er seine Hand auf die Klinke. Sofort hörte der Sturm auf, der Boden war wieder ruhig und die Sonne schien. Der Mann war erstaunt. Vom Inneren der Scheune kam ein schmatzendes Geräusch. Einen Moment lang dachte er, dass das etwas Gefährliches sein könnte. Dann dachte er: „Mir geht’s immer noch gut,“ und öffnete das Tor. Innen fand er ein Pferd, das Hafer fraß. Daneben stand eine weiße Rüstung. Der Mann legte sie an, sattelte das Pferd, ritt zum König und dem Zauberer und sagte: „Ich bin bereit, mein König.“ „Wie fühlst du dich?“, fragte der König. „Soweit ist alles in Ordnung mit mir,“ sagte der Mann.


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Der Bettler und sein Schatz
In Chennai sitzt jeden Tag ein dürrer Bettler an ein- und derselben Straßenecke.Hier ist ein guter Platz zum Betteln, die Kreuzung ist belebt. Außerdem steht hier eine alte, verwitterte Holzkiste. So muss der Bettler nicht am Boden sitzen. Er kauert also jeden Tag von Früh bis Spät auf dieser Kiste und spricht die Passanten an: "One Rupie, please! One Rupie, please!" Was er hier erbettelt, reicht an manchen Tagen kaum, um satt zu werden. An einem Tag kurz vor dem Monsun sitzt er wie immer wieder hier. Ein gut gekleideter Geschäftsmann kommt vorbei. "One Rupie, please!", bettelt der Arme. Der Geschäftsmann bleibt stehen und holt seine Geldbörse hervor. Dann sagt er zu dem Bettler: "Ich gebe dir gerne etwas. Aber sag doch: Ich bin schon öfter hier vorbei gekommen und frage mich jedes Mal, was in dieser alten Kiste ist." "Ich weiß es nicht", antwortet der Bettler. "Du sitzt hier jeden Tag und hast noch kein einziges Mal nachgesehen?", kann es der Reiche kaum glauben. "Nein!", so der Bettler. "Ich geb dir die Rupie nur, wenn dunachsiehst!". Der Bettler erhob sich von seinem hölzernen "Thron" und hob den Deckel an. Ganz leicht ließ er sich öffnen, kein Schloss war daran. Sie war bis zum Rand voller Goldstücke. Der Bettler konnte es kaum glauben: Jahrelang war er auf einem Goldschatz gesessen und hatte täglich um einzelne Rupie zum Überleben gebettelt.


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Der Absturz
Es war einmal ein Mann, der sich in den Bergen verirrte und nicht mehr den Weg nach Hause fand. Die Sonne ging schon unter und er fürchtete sich mehr und mehr. Er wurde unruhig und ängstlich. Die Nacht kam und alles wurde still und dunkel. Er begann also sehr langsam zu gehen, weil er nicht wusste, wohin er eigentlich trat. Tatsächlich gelangte er an einen Abgrund und stürzte hinunter. Im Fall konnte er sich an ein paar Wurzeln festhalten.Die Nacht war sehr kalt und seine Hände wurden steif vor Kälte. Es war immer schwieriger, sich an den Wurzeln festzuhalten. Er erinnerte sich an seinen Gott und sogar an die Götter anderer Leute. Irgendjemand musste ihm helfen! Er betete alle heiligen Worte, die ihm einfielen, doch nichts passierte. Seine Hände wurden immer kälter und die Wurzeln rutschten durch die Hände. Er verabschiedete sich von der Welt. „Es geht mit mir zu Ende. Ich weiß nicht, wie tief das Tal ist, in das ich fallen werde und wie viele Knochenbrüche ich erleiden werde.” Er weinte so viele Tränen. Er weinte und dabei wollte er früher immer die Welt verlassen, weil sie ihm so viele Probleme verursachte. Jetzt war die Gelegenheit dazu, doch jetzt wollte er leben. Die Kälte wurde stärker und stärker und schließlich musste er die Wurzeln loslassen. Doch: Zu seiner Überraschung stand er auf festem Boden. Die ganze Nacht lang hatte er gekämpft und war nur 20 Zentimeter vom Boden entfernt. Er hatte wie in der Hölle gelitten. Die ganze Nacht, die Kälte, die ständige Angst, dass er irgendwann loslassen müsse. Er hatte nichtgeglaubt, dass er noch jemals das Tageslicht sehen würde.
Aber er fiel nur 20 Zentimeter und konnte es kaum glauben. Er schaute sich um. Ganz in seiner Nähe stand sein Haus. Er sagte: „Du lieber Gott! Ich habe völlig unnötig alle Götter angefleht, die ganzen Gebete zitiert und das alles, ohne je wirklich in Gefahr zu sein!”


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Das perfekte Haus 

Ein Einsiedlerkrebs lebte auf dem Meeresboden ganz in der Nähe einer schönen Koralle. Er besaß ein feines Schneckenhaus, in das er sich jederzeit zurückziehen konnte.
Doch eines Tages schien ihm sein Schneckenhaus nicht mehr gut genug zu sein: „Ich bin ein angesehener Einsiedlerkrebs und sollte mir ein neues Haus suchen“, sagte er zu sich. „Ich habe einfach etwas Besseres verdient.“

Und so verließ er sein Schneckenhaus und machte sich auf die Suche. Dutzende, ja, sogar hunderte von Schneckenhäusern probierte der Krebs aus, aber keines erfüllte seine Erwartungen. Das eine war zu groß, das andere zu klein, wieder ein anderes hatte einen Riss und das nächste nicht die richtigen Farben. Entmutigt setzte er sich in den Sand. Da fiel sein Blick auf ein weiteres Schneckenhaus. Er mobilisierte noch einmal alle Kräfte, kroch zu diesem Schneckenhaus und schlüpfte hinein.
Und ja, das war das perfekte Schneckenhaus! Es passte genau, es sah wunderschön aus und er fühlte sich auf Anhieb ganz zu Hause. Selig schlief er ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, fiel sein Blick auf die schöne Koralle ganz in seiner Nähe. Darauf besah er sich das Schneckenhaus genauer … und es war exakt das Haus, das er verlassen hatte, um sich ein besseres zu suchen.



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Das weiße Pferd 
Ein alter Mann lebte in einem Dorf und war sehr arm; aber selbst Könige waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Die Könige boten phantastische Summen für das Pferd, aber er verkaufte es nicht. 
Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich und die Leute sagten: "Du dummer alter Mann, was haben wir dir gesagt? Warum hast du nur das Pferd nicht verkauft? Wir haben es immer gewußt, dass das Pferd eines Tages gestohlen werden würde. Es wäre wirklich besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück ist jetzt geschehen!
Der alte Mann aber sagte: "Kann sein oder kann nicht sein. Warum gleich urteilen? Sagt einfach nur das, was ist. Das Pferd ist nicht im Stall. Soviel ist Tatsache, alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen weiß ich nicht, weil ich nicht weiß, was darauf folgen wird." Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bisschen verrückt war.
Aber nach 14 Tagen kehrte das Pferd plötzlich zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Und nicht nur das, es brachte noch 12 wilde Pferde mit. Wieder versammelten sich die Leute und sagten: "Alter Mann, du hast doch recht; es hat sich tatsächlich als Segen erwiesen." Der alte Mann entgegnete: "Kann sein oder kann nicht sein. Warum gleich urteilen? Sagt einfach, das Pferd ist zurückgekommen. Ihr lest nur ein einziges Wort in einem Satz; wie könnt ihr über das ganze Buch urteilen?" Doch die Leute schüttelten nur verständnislos ihre Köpfe. 
Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn. Der begann nun, die Wildpferde zuzureiten. Schon eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich beide Beine. Wieder versammelten sich die Leute und wieder urteilten sie: "Was für ein ein Unglück! Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen, und er war die Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor!" Der Alte antwortete: "Kann sein oder kann nicht sein. Ihr seid besessen vom Urteilen. Geht nicht so weit. Mein Sohn hat sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist.“ 
Die Menschen wunderten sich über den Alten. Es begab sich, dass das Land nach ein paar Wochen einen Krieg begann. Alle jungen Maenner des Ortes wurden zwangsweise zum Militär eingezogen, nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er nicht laufen konnte. Der ganze Ort war vom Wehgeschrei erfüllt, weil dieser Krieg nicht zu gewinnen war und man wusste, dass die meisten nicht nach Hause zurückkehren würden. Sie kamen zu dem alten Mann und sagten: "Du hattest recht, alter Mann, es hat sich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir."
Der alte Mann antwortete wieder: "Kann sein oder kann nicht sein. Ihr hört nicht auf zu urteilen! Ihr wisst doch nur, dass man eure Söhne in die Armee eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Nur Gott, der das Ganze überblickt, weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist.“

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